Um es gleich vorab zu sagen: Es ist ein sehr gutes Buch, das ich jeder großen oder größer werdenden Unternehmerfamilie uneingeschränkt zum Lesen und Verinnerlichen empfehle. Denn die drei Autoren garantieren nicht nur tiefes Wissen über Unternehmerfamilien, sondern sind auch bekannt für ihre vorsichtige und differenzierte Beurteilung und Interpretation. Daraus ergeben sich dann ganz automatisch zwar nicht immer eindeutige Handlungsanweisungen für die Unternehmerfamilien, aber viele Möglichkeiten des Handelns, die von Verstehen und Reflexion getragen sind. Auch werden alle wichtigen Themen angesprochen: Family Governance, Kommunikation, Fachkompetenz, Werte (im doppelten Sinne), Konfliktfelder.
Wenn ich jetzt kritisiere, so geht es weniger um den Inhalt als viel mehr um in meinen Augen falsche Terminologien. Es geht also ‚nur‘ um Begrifflichkeiten. Jedoch können falsche Begriffe in die Irre führen. Denn wir haben nur unsere Begriffe, um Semantik zu transportieren.
Die großen Unternehmerfamilien werden dynastische Familien genannt. Als Dynastien werden ursprünglich Herrschergeschlechter bezeichnet, bei denen gerade immer nur ein Kind (in der Regel der erste Sohn) die Macht vollständig übernimmt. Bei den beschriebenen dynastischen Familien ist es aber gerade nicht so, sondern dort wird – wie in der griechischen Polis – die Macht nach Besitz verteilt. Wer also mehr Besitz hat, hat eine mächtiger Stimme, der Besitzlose keine. Genauso handeln aber Unternehmerfamilien, denn die Höhe der Gesellschaftsanteile bestimmt in der Regel die Macht. Deshalb beschreiben die Autoren auch richtig, dass Interessenkonflikte eher „politisch“ gelöst werden (S. 107). Womit wir bei der Polis und nicht bei der Dynastie sind. Dass sich der Begriff Familiendynastie für große Unternehmerfamilien mittlerweile aufgrund einer (unbedachten) ersten Verwendung und daraufhin Wiederverwendung und Zitierung mittlerweile etabliert hat, macht ihn deshalb auch nicht richtiger.
Die Autoren beschreiben die großen Unternehmerfamilien in ihrem Modell als Unternehmerfamilie 3.0. Das Modell von UF 1.0, 2.0 und 3.0 ist schlüssig und gut beobachtet. Nur mit dem kleinen Schönheitsfehler, dass die Unternehmerfamilie 3.0 eigentlich 4.0 heißen müsste. Denn in Anlehnung an Industrie 4.0, bei der es um Netzwerk-Geschäftsmodelle geht, wo Kund*innen, Lieferant*innen, Produzent*innen in einem (digitalen) Netzwerk interagieren, wird auch die sehr große Unternehmerfamilie als Netzwerkfamilie beschrieben. Das ist alles richtig, wenngleich fälschlicherweise als Unternehmerfamilie 3.0 und nicht als UF 4.0 bezeichnet. Der Denkfehler liegt m.E. bei der Unternehmerfamilie 1.0. Diese wird als Gründer-/Kleinfamilie beschrieben. Gründer*innen sind Selbständige, deren Familien (noch) unwesentlich fürs Geschäft sind, also UF 1.0. Die Kleinfamilie, bei der Ehepartner und Kinder im Unternehmen mitengagiert sind, ist die UF 2.0. Die gewachsene Familie mit Cousinen und Cousins, die sich als Unternehmerfamilie organisieren muss, ist die UF 3.0. Und die beschriebene Netzwerkfamilie ist dann UF 4.0. Voilà.
In diesem Sinne will ich mit meinen Ausführungen nur den Diskurs anregen, mit Begrifflichkeiten noch sensibler umzugehen. Die beschriebenen richtigen Beobachtungen sollen damit in keiner Weise geschmälert werden, denn sie bringen jedem Interessierten viel Erkenntnisgewinn.
Dr. Rena Haftlmeier-Seiffert